Michael Rutschky testete das Softbook:
elektroLit, 15.-17.Juni 2000

 

Gutachten über ein zukünftiges Gerät

Als erstes imponiert an dem zukünftigen Gerät, daß es sich in einem altertümlichen Gewand nähert. Es scheint nämlich in eine Lederhülle geschlagen, die am Rand ordentlich vernäht ist. Der Gutachter fand nicht auf Anhieb heraus, ob es sich um Leder oder Kunstleder handelt; auch die einfachste Prüfung, Riechen, blieb erst einmal ergebnislos.
Nehmen wir an es sei echtes Leder (das Gerät ist schließlich teuer genug). Damit assoziiert sich das Softbook dem älteren Hardbook, das nicht in Karton oder Leinen sondern in Leder gebunden war. Solche Ledereinbände konnte sich der Bücherfreund, sofern er über genügend Geld verfügte, vom Buchbinder für alle Bände seiner eigenen Bibliothek anfertigen lassen; neben dem Exlibris im Innern ein Monogramm auf der Außenseite: so wie die Rinderherde des Viehzüchters durch sein Brandmal markiert ist, so die Bücherherde des Bibliophilen durch seine Initialen.
Daß das neueste Gerät in dem Fall, der dem Gutachter vorlag, eine solche historische Reminiszenz aufruft, lehrt wieder einmal, wie gern das Neueste an Archaisches anknüpft. Die ledergebundenen Hardbooks kommen ja im normalen Buchhandel überhaupt nicht vor; man findet sie in Antiquariaten. Die Ausnahme bildet Hans Magnus Enzensbergers Andere Bibliothek, die limitierte Vorzugsausgaben in Ziegenleder anbietet. Der Ledereinband, will ich sagen, macht das Buch ganz unabhängig von seinem Text zu einem kostbaren Objekt. An dieser Nobilitierung will das Softbook teilhaben.
Nun muß der Gutachter eine Einschränkung machen. Das Leder umhüllt das Softbook nicht in toto, sondern nur zur Hälfte. Der dunkelgrüne Corpus besteht gut erkennbar aus Plastik, auch wenn das Dunkelgrün zusammen mit dem Lederbraun den Eindruck erwecken möchte, das Gerät verdanke sich handwerklicher Kunst und sei geschmackvollerweise am besten in freier Landschaft zu verwenden.
Die Halbierung des Ledereinbandes bringt das Gerät um viel von dem Effekt, den er eigentlich machen sollte. Statt an Enzensbergers Vozugsausgaben oder die Rare Books der Antiquariate, fühlt sich der Gutachter an die sog. Halblederbände erinnert, die früher Buchclubs ihren Ausgaben zu verpassen pflegten. In Buchclubs konnte der Leser, der sich in der Buchproduktion nur schlecht zu orientieren vermochte, gute Bücher sozusagen abonnieren. Buchclubs waren für aufstiegsorientierte Bürger da, die am Bildungsnimbus schon mal partizipieren wollten, ohne richtig zum Bildungsbürgertum zu gehören. Buchclubs versammelten das Bildungskleinbürgertum; und wie alle Güter, die dem sozialen Aufstieg dienen sollen, zeichneten sich Buchclub-Bücher durch ein eigentümliches Ungeschick aus: Die Halbleder-Bände schauten, sofern die Bücher reihenweise im Schrank standen, zwar wie Ganzleder aus, aber wenn man sie aus der Reihe und dem Schrank herausnahm, hielt man halt bloß ein halbbekleidete Hardbook in der Hand. Am Ende war übrigens alles Halbleder Kunststoff geworden.
Es scheint mir unabweisbar, daß sich das Softbook mit seiner halben Lederhülle in solche Anerkennungskämpfe verstrickt. Auch von einer anderen Seite. Zu den Hilfsmitteln, die dem Bildungskleinbürgertum seine Ängstlichkeit gegenüber den eigentlich heiß begehrten Bildungsgütern zu bekämpfen erlaubten, gehörten auch die sog. Buchhüllen. Gern aus Leder, schlugen sie jedes Buch für die Dauer des Lesens ein- leider ist mir ein Demonstrationsexempel unauffindbar geblieben. Buchhüllen - auch ein beliebtes Geschenk an Geburtstagen und Weihnachten, insbesondere für den weiblichen Menschen - Buchhüllen dienten der Schonung des Buches. Womöglich waren die Hände des Lesers, die das Buch halten, schmutzig; oder sie schwitzten und hätten dem Buch Schweißflecken verpaßt. So konnten Buchhüllen auch solche Bücher behüten, die der ängstliche Bildungskleinbürger bei Freunden oder gar in einer öffentlichen Bibliothek ausgeliehen hätte. Daß fremde Bücher von seinen Händen Schweiß- oder andere Flecken bekommen könnten, das kennzeichnet das Ungeschick des Bildungskleinbürgers prägnant.
Und auch in dies Assoziationsfeld verstrickt sich das Softbook, das dem Gutachter vorlag.

Wenn ich richtig verstanden habe, ist das Softbook insofern ein richtiges Buch, als es zum Lesen da ist. Zwar kann man Unterstreichungen vornehmen, Exzerpte markieren, man kann Blätter für persönliche Notizen einlegen, und man kann all diese Eingriffe in das Buch extra versammeln - doch sind dies Formen der Lektüre, nicht des Schreibens.
(Auch wenn im Fall des Gerätes, das dem Gutachter vorlag, die Lektüremöglichkeiten bescheiden ausfielen: U. a. News Headlines für Freitag, den 3. September 1999, dazu div. Zeitungsartikel; PR-Material über Star Wars; Hundesteuersatzung der Stadt Oldenburg; Informationen für Banken und Sparkassen; sowie eine Gebrauchsanweisung: Learning to Use Your Softbook: Hinweise, wie man eigene Softbooks produzieren kann - wofür man aber mehr als ein Softbook braucht. Und schließlich, als pièce de résistance Jack London, The Sea Wolf, with the Compliments of SoftBook. Die Hauptsache - der Aufbau einer eigenen Bibliothek, das Stöbern in der Buchhandlung - bleibt Teilhabern in den USA und Kanada vorbehalten, die sich in das dortige Telefonnetz einschalten sollen. Eine romantische Situation: den Gutachter definiert seine unüberbrückbare Entfernung von Kanada und den USA.)
Zwar finden sich also Hinweise, wie ich als Autor ein Softbook produzieren und mich in das entsprechende Network einschalten kann, doch geht es vor allem um Lesen.
Wenn ich richtig verstehe, ist damit die ursprüngliche Utopie, von der all diese Gerätschaften inspiriert waren, aufgegeben: Jeder Empfänger ist ein Sender und umgekehrt; niemand braucht in der Passivität der Lektüre zu verharren, jeder kann sogleich zur Aktivität des Schreibens übergehen. Eine Utopie, die schon andere Kommunikationstechnologien besiedelt hatten (bei Brecht bekanntlich das Radio). Und zugleich eine Utopie, die vor allem den Wünschen des jungen Autors entspricht. Denn den jungen Autor charakterisiert zu allererst nicht der Wunsch, zu schreiben - Gedichte, Romane, Theaterstücke - was den jungen Autor vor allem quält (wirklich: quält), das ist der Wunsch zu publizieren, die Sehnsucht nach Veröffentlichung. Eine längere Beschäftigung mit den Leserbriefen an die Zeitungen hat mich mal zu dem Ergebnis gebracht: Alle wollen bloß schreiben, keiner will lesen. So muß man die Akzente bei jener Utopie also umgruppieren. Statt ,,jeder Empfänger zugleich ein Sender" muß es heißen ,,wo Empfänger war, soll Sender werden". Wo Leser, da Schreiber.
An dieser Utopie partizipiert das Softbook in keiner Weise. Wie beim Hardbook ist der Leser mit dem Buch allein; die Kommunikation verläuft über einen ausformulierten Text, in den der Leser nicht eingreifen kann. Man darf in Jack Londons Sea Wolf, wenn der Gutachter richtig verstanden hat, zwar nach Belieben mit dem Stift herumschmieren, auch eigene leere Seiten mit klugen Kommentaren füllen und Exzerpte markieren. Aber löschen lassen sich nur diese Hinzufügungen; kein einziger Satz des Buchtextes selbst.
Das Softbook (und seine Variationen) führt, wenn ich richtig verstehe, mit dem Buch auch die strikte Trennung zwischen Leser und Schreiber wieder ein, auf die Dauer der Lektüre. Was der Leser später aus der Lektüre macht, wie er sie nacherzählt, auswertet, vergißt - wie daraus ein ganz anderes Buch entsteht, das geht weder in das traditionelle Hardbook noch jetzt das Softbook unmittelbar ein. Auf die Dauer der Lektüre ist der Leser mit dem Buch allein; und daß er sich beim Schreiber des Buches rückmelden weder kann noch muß, kennzeichnet die besonderen Gelegenheiten des Lesens. Weshalb man das Lesen von Büchern als Königsweg der Individuation bezeichnet hat. Jeder Leser kann sich erinnern, wie das Kind, das anfängt zu lesen, sich damit dem Zugriff von Vater, Mutter, Geschwistern, auch dem Zugriff der Peers unwiderruflich entzieht. Neben dem Lügen ist das Lesen in der Kindheit die unauffälligste Form, sich selbständig zu machen.
Um wenigstens ein einziges Prunkzitat zu plazieren: Der englische Kulturtheoretiker und Lebensreformer John Ruskin hat in seiner berühmten Vorlesung On King's Treasuries 1864 die These vertreten, das Lesen erlaube den intimen Austausch, ja die Freundschaft mit Leuten, die unvergleichlich viel klüger und weiser seien als alle in unserer unmittelbaren Umgebung, Freundschaft und intimen Austausch mit den Kulturheroen. In seiner Übersetzung dieser Vorlesung bestreitet Marcel Proust dies Kommunikationsmodell: ,,Ich habe versucht", so Proust, ,,zu zeigen, daß das Lesen nicht auf solche Weise mit einer Unterhaltung gleichgesetzt werden kann, sei es auch eine mit den allerklügsten Menschen, und daß der wesentliche Unterschied zwischen einem Buch und einem Freund nicht ihre mehr oder weniger große Klugheit ist, sondern die Art und Weise, in der man mit ihnen verkehrt, da das Lesen im Gegensatz zur Unterhaltung für jeden von uns darin besteht, die Übermittlung eines anderen Denkens entgegenzunehmen, wobei man jedoch allein bleibt, das heiß fortfährt, weiter die intellektuelle Kraft zu genießen, über die man in der Einsamkeit verfügt, die aber bei einer Unterhaltung unverzüglich zerstreut wird".

Nimmt man jene Utopie als Folie - wo Leser war, soll Schreiber werden - dann bringt das Softbook und seine Varianten die Rückkehr in die Bücherwelt mit sich. Man kann sich jetzt der Detaillierung von Prophezeiungen widmen - so möchte der Historiker Robert Darnton dem elektronischen Buch das Genre der wissenschaftlichen Monographie anvertrauen, die kein Verlag mehr auf Papier drucken und zum Buch binden werde; der Verlagsmann Jason Epstein sagt eine drastische Reduktion des Verlagswesens um Lektorats- und PR-Arbeit voraus, also eine Verkürzung in der Abfolge von Bücherschreiben und Bücherlesen.
Weil dies Feld insgesamt so heftig zum freien Prophezeien herausfordert, möchte ich mich zurückhalten. Mir genügt der Gedanke, daß in Zukunft auf der einen Seite des Kontinuums Minipressen zu finden sind, die Bleisatz und andere archaische Technologien verwenden und ihre Bücher womöglich in Ziegenleder binden, während auf der anderen Seite ein Softbook-Netz und andere existieren, die auf ihre Weise Bücher produzieren, vertreiben, verkaufen, die dann eben auf dem Bildschirm stehen statt Papier. (Wenn ich es mir genauer überlege, erweist sich der schimmernde Bildschirm, der unter der Lederhülle aufgeht, als durchaus zaubrischer Natur. Keine Probleme mit dem Poetisieren oder Romantisieren: eine Art Wasserfläche unter Glas, auf der per Knopfdruck Schriften erscheinen. Daß Hardbooks ganz andere Objektqualitäten aufweisen, impliziert in diesem Punkt keineswegs ihre Überlegenheit.)
Eine Dimension des Prophezeiens möchte ich mir hier noch zu skizzieren erlauben; es ist eine sozusagen marxistische.
Bücher - so sollte es meine Betrachtung der halben Lederhülle des Softbook demonstrieren - inszenieren sich als Objekte im Klassenkampf, sofern er auf kulturellem Feld tobt (Pierre Bourdieu hat seine Leser über diese Dinge unwiderruflich aufgeklärt) - Obwohl der Buchdruck das Massenmedium par excellence war, konzentrierte sich die kulturelle Macht der Bourgeoisie in der Buchwelt (neben Konzert, Theater, Museum). Die Kunstreligion des deutschen Bildungsbürgertums hat das besonders prägnant zum Ausdruck gebracht.
Ich habe mal eine Studentin der Literaturwissenschaft kennengelernt, der - wie das früher vom Kirchenglauben immer wieder berichtet worden ist - der Glaube an die Kunst- und Bildungsreligion einfach verlorenging. Artig in das Lesen anhand von Hermann Hesse und anderen Heiligen sozialisiert, überfiel sie plötzlich ätzende Skepsis angesichts dieser Sakramente und Reliquien. Eine Bibliothek zu benutzen wurde ihr so unheimlich, fast ekelhaft, wie einem Agnostiker der Besuch einer Kirche, womöglich eines Gottesdienstes. Was soll dieser aufgespreizte nackte Mann da an dem Balken?
Die Studentin ist nicht von der Literaturwissenschaft abgefallen und etwa zur Physik konvertiert: über PC und Internet konnte sie Fühlung zur Welt der Texte behalten; bloß recherchierte sie halt dort und nicht mehr in der Staatsbibliothek. Diese Textwelt hat die sakralen und bourgeoisen Ausdruckscharaktere abgestreift, wie sie am Hardbook unlöslich haften, Elemente, an denen der traditionelle Büchermensch so intensiv hängt und denen das Softbook mit seinem halben Ledereinband - wie es dem Gutachter vorlag - seine Reverenz erweist.
Was ich mir also vorstellen kann - in dieser marxistischen Perspektive - das sind Leser, massenhaft, die über diese Geräte und ihre Netze eine zweite Bücherwelt aufbauen. Sie kann in toto die Bestände der ersten enthalten und jede Menge Neuzugänge. Aber sie wäre von jenen klassenkämpferischen Elementen befreit, denen mein Softbook mit der halben Lederhaut sich noch verpflichtet hat. Vorerst davon befreit. Sehr rasch wird auch hier die soziale Differenzierung einsetzen.

 

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