Terézia Mora testete das ROCKET BOOK:
elektroLit, 15.-17.Juni 2000


Oh Zeit, deine Pyramiden

Über ein obskures Objekt

Und Gonzales gab Prospero "...nebst reichen Kleidern; / Auch Leinwand, Zeug und allerlei Gerät..." auch ein Rocketbook mit ins Boot, damit er auf seiner einsamen Insel stranden konnte. Alles, was es an Nützlichem, Praktischem, Trost spendendem (also Schönem und/oder Okkultem) gibt, war darin vereint.
(Greenaway behauptet, die milde Gabe hätte aus 24 Büchern aus Prosperos Bibliothek bestanden, das hieße: 3 Rocketbücher - "normal" gegen elektronisch notiert zur Zeit mit 1:8 - was eine Dreifaltigkeit ergäbe. Auch nicht schlecht. Aber bleiben wir bei einem. Ich bin schließlich kein Fürst, gestürzt oder ungestürzt, nur eine Spaziergängerin von Frankfurt, und mein Gönner heißt BOL.) Letizia Alvarez de Toledo (a.k.a J.L. Borges) hat, als letzte Fußnote einer überflüssigen und wortreichen Epistel über eine (die) Bibliothek ohnehin angemerkt, die ungeheure Bibliothek sei überflüssig, strenggenommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats... genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestünde (wobei ich Letzteres - was unendlich viel und was ein Blatt ist, als eine Definitionsfrage betrachte). Der erste Massenartikel der Welt zusammengezogen auf einen Punkt, in einem Objekt (denn die 8 in 1:8 umzudrehen zu einem 8, ist vielleicht auch nur eine Frage veschwindender Zeit). Stapel neben dem Bett, Piedestale für Teetassen, Wälle ("ich arbeite!") gegen die Lieben: vorbei.

Nach herkömmlichen Buchmaßstäben hat mein Objekt die gewöhnliche Größe eines Klein-Oktavs - bis 18,5 cm Rückenlänge. (Falls es sich bewährt, werden mit der Zeit vielleicht auch Sedet und Oktav dazukommen, Großoktav, Lexikonoktav, Quart, Folio und Groß-Folio wohl eher nicht, die Richtung abwärts, Gameboy bzw. Handy ist da schon wahrscheinlicher.) Prächtig ist das Utensil, das ich aus einem Futteral, außen nüchternes Kunstleder, innen frivoles lila Satin, nehme, eben nicht. Buchenholz, Ton, Palmblatt, Bambus, Ficus und Agave, Leder, Papyros, Lumpen, Zellulosebrei - Rocky, wie ich es nenne, hat alles abgelegt, was am Buch unwichtig war: Umschlag, Material, Qualität und Farbe seiner Blätter; Beliebiges und Illusionäres, das über die wahre Beschaffenheit und Rolle des Buchs kaum etwas aussagte. (Über den Status ja, und eben dieser ist heute aus anderen Stoffen gemacht.)

Ein "als ob"-Objekt. Wie das Buch der Spiegel, das, wie sich Greenaway vorstellt, das wichtigste unter Prosperos Büchern gewesen sein soll. Metapher für Illusion und Selbstreflexion, das dem Illusionator (dem Zauberer, dem Künstler) am nächsten steht. Der Beschreibung nach scheint mir das Buch der Spiegel allerdings ein ganz normales Buch gewesen zu sein: In manchen seiner Seiten, heißt es, sieht der Betrachter sich dünn, oder dick oder von Brüchen durchzogen, in manchen als Kind, als Greis, als Frau oder als Tier. Man kann sich auch in Rocky spiegeln, wie es manchmal im dunklen Fernseher möglich ist, wenn man den Staub abwischt, oder wie als Kind im Fensterglas, wenn es dahinter verdunkelt war. Man sieht schön aus in solchen Scheiben. Wie unter Wasser, wie im Himmel. Oder, wenn ich einen eigenen Text hineinlade, wie in der Montage, die ich mal von mir selbst gemacht habe: mein Gesicht als Hintergrund für meinen eigenen Text (oder umgekehrt - Ansichtssache). Mit zunehmender Dunkelheit allerdings verschwimmen meine Züge, nur noch konturlos oszellierende Flecke hinter fransig werdenden Linien: ein grau-graue Lavalampe.

Also schalte ich das Licht ein - nicht etwa die Leselampe, oder eben doch: Rocky selbst ist es. Mein Wonzimmer ist nun eine perfekte Komposition strategisch gesetzter Bildschirmquadrate: Rocky und seine Verwandten, der Fernseher und die Computer. Punktuelle Beleuchtung, wie man sie aus manchen Filmen kennt (siehe Greenaway), und wozu einem die Schöner-Wohnen-Zeitschriften raten. Das bildungsbürgerliche Wohnzimmer von morgen schon heute: eine geringe Menge Rocketbooks auf senkrechten und waagerechten Flächen (Wände, Tische, Boden etc.) reicht schon aus, um ein ausreichendes Flimmern zu erzeugen. Auch zwischen Pflanzen schadet es nichts (dann ein Werk über Botanik aktivieren und/oder Name June Paik einladen). Zeitalter der Lese-Wut.

"...küß das Buch; ich werde es gleich mit neuem Inhalt füllen!" Stephano, der betrunkene Mundschenk sagt das irgendwo im zweiten Akt von Der Sturm, was er dabei allerdings in der Hand hält, ist eine eher spezielle Bibel: eine Weinflasche aus Kork. Ich für meinen Teil bin damit auch baden gegangen, als ich mich für die Einladung von The Tempest entschied - irgendwann hatte ich einen Film gesehen, der mir suggerierte, es ginge darin um Bücher. Nun darf ich lesen: Where the bee sucks, there suck I.

Aber egal. Rocky ist, wie jedes Buch, ohnehin total, dhcmrlchtdj, grafische Materialisierung geistig-immaterieller Inhalte, Zeichen als Bilder, als Punkte und Nichtpunkte, 0 oder 1. Schwarz, schwarz, schwarz, weiß, weiß, schwarz, schwarz, weiß, schwarz, schwarz schwarz - manchmal ein Buchstabe, manchmal ein Wort und manchmal ein Tamagochi - so groß ist der Unterschied zum herkömmlichen Buch nun nicht. Man kann es nicht blättern und es braucht Batterien (aber das brauchte die Taschenlampe unserer Kindheit auch, und blättern war gefährlich. Zukünftig hat man unter der Decke neun Finger frei: Rocky ist wie gesagt, total: Taschenlampe, Buch und Art piece zu gleich. Ich kann es lesen, es schreiben, es fernsehen oder lassen. Ich könnte chinesische Zeichen hineinladen und es an die Wand hängen ©, zwei Sachen, die man nicht versteht: zusammen. Ich hätte mir die Qual meiner Vormittage sparen können und allen sagen, ladet einfach nur das Wort Rebenschere in euer Rocketbook, das ist alles, was es an Wichtigem über meine Kindheit zu sagen gibt. Keine tausend Seiten mehr, nur noch eine, leere: die perfekte Oberfläche. Nichts. Alles. Überfläche. Brave new world!, ruft Miranda aus. ('Tis new to thee, antwortet Prospero, und ich fürchte, er hat nicht Unrecht.)

Nevertheless (auch ein Wort wie ein Rocketbook): für jemanden wie mich, der manche Worte wie Evangelien liest, aber Bibliotheken haßt, öffentliche wie private, diese Staubfänger, diese unüberblickbaren babolynischen Waben, in denen man nur mit Glück ein Buch mit Sinn findet, sind Rocky und sein Freund Internet wie geschaffen. Ich selbst allerdings, da nur ein Mensch - Ton, Leder, Lumpen - bin im Gegenzug nur eingeschränkt geschaffen für sie. Konkret: die Augen fallen mir aus dem Kopf. Aber ich weiß, daß man die Sicht, wie alles andere, lernt. Meine Oma kann an so einem Bildschirm wie der, an dem sich dieser Text hier schreibt, nichts erkennen. Ich erkenne bloß die (sog. Druck)Fehler nicht - immerhin: etwas kommt an. Und ich nehme bei Bedarf ein schönes feuchtes Tuch zur Hand und wische den Staub hinweg.

Oder ich nehme die Hand aus dem Badewasser, und tue es - vorsichtig, es ist ein Buch! - damit. Wir haben es für Sie getestet: man KANN Rocky auch in der Badewanne lesen, im Dunkeln sogar, und sich wiegen lassen, in den Wellen, den Waben. Rock me, rock me, rock me baby. (Rock me, till I want no more.)

"Wir sind aus solchem Stoff, wie der zu Träumen/ und dies kleine Leben umfaßt ein Schlaf." Das leichte Flüstern der Sterne in meiner Wohnung. Sie sind viereckig. Sie bescheinen mein Gesicht und machen mich blaß.

 

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