Peter Glaser testete Palm Pilot und Handspring Visor:

elektroLit, 15.-17.Juni 2000

SCHRIFT UNTER STROM
Einige Bemerkungen zu elektronischen Büchern

So wie Luxus ungerecht und verschwenderisch hinausfunkelt über das Notwendige, erhebt sich die Leidenschaft über das Alltagsgefühl, eine rauschende Fontäne. In Schrift gefaßte Leidenschaft ist die Antwort auf die Frage, ob das schon alles war. Sie fächert Farben auf vor der noblen Blässe der Zivilisation und zittert vor Zorn, nicht die ganze Welt sein zu können, sondern nur ein kleiner Mensch unter den Sternen. Jemand schnipst ein brennendes Streichholz in einen Swimmingpool voller Äther. Leidenschaft. Die leuchtenden Spuren davon sind nun auch auf handlichen kleinen Bildschirmen Literatur.

Ich habe Ihnen als erstes einen Testbericht zu liefern. Man hat mir freundlicherweise für einige Zeit einen PalmPilot und einen Handspring Visor, jeweils mit verschiedenen elektronischen Bücher darauf, zur Verfügung gestellt. Die beiden PDAs sind deutlich kleiner als ein Taschenbuch, wobei sich die eigentliche Lesefläche nochmal auf die Hälfte reduziert; den Rest beanspruchen die Bedienungselemente. (Das tatsächlich buchgroße Rocket e-Book hat mich leider nicht rechtzeitig erreicht.) Pilot und Visor liegen in ihren Abmessungen ziemlich genau zwischen einem Taschenbuch und einem Schummelzettel. Was mich an eine Zeit vor zwanzig Jahren erinnert, als ich gewissermaßen zur Grundausbildung meines Schriftstellerberufs gehörig in einer Papierfabrik gearbeitet habe. Ich bin jeden Tag acht Stunden vor einer gewaltigen Papiermaschine gestanden, und zwar genau an der Stelle, an der der gebleichte Brei aus Holzsplittern das erste Mal von einem Endlosnetz als die eigentliche Papierbahn abgehoben wurde. Meine Aufgabe war, abzuwarten, wann die Bahn reißt.

Das passierte im Schnitt ein oder zweimal pro Schicht und zog eine Viertelstunde Betriebsamkeit nach sich. Der Rest war tödliche Langeweile. Als ich angefangen habe, mir was zu lesen mitzunehmen, mußte ich feststellen, daß, jedenfalls während der Nachtschichten, von den Vorgesetzten zwar die Lektüre von Groschenheften toleriert wurde, aber beispielsweise Suhrkamp-Taschenbücher schärfste Mißbilligung hervorriefen. Ich weiß noch, daß ich mich mal um drei Uhr früh aufs Klo abgesetzt habe, um Max Frisch zu lesen, dies im Vollgefühl einer zutiefst subversiven Tätigkeit. Damals hat Diogenes eine sogenannte Mini-Bibliothek der Weltliteratur herausgebracht. Klassiker-Bändchen, die so klein waren, daß man sie in einem zur Schale geformten Handteller verbergen konnte. Habe ich mir die ganze Schachtel gekauft.

Heute würde ich einen PDA in die Fabrik mitnehmen. Das ist das erste Schöne an den Behältnissen für elektronische Bücher: daß sie ein ganzes Regal voller Bücher sein können, nicht einfach nur ein einzelner Buchtext unter Strom. Die Möglichkeit, eine ganze Reisetasche voller Bücher - und in absehbarer Zeit eine passable Privatbibliothek - auf Hemdtaschenformat zu entvoluminieren, finde ich außerordentlich erfreulich. Und da wir grade bei Reduktionen sind, sparen wir auch gleich noch den vermeintlichen Kulturkampf zwischen digitalen Datenträgern und Papier ein. Elektronische Bücher werden es nicht leicht haben, an der Seite einer Kulturtechnik zu stehen, die, was Ökonomie, Schönheit und Handhabbarkeit von Schrift betrifft, in den 500 Jahren der Geschichte des Buchdrucks zu einer Vollkommenheit gelangt ist. Bücher aus Papier gehören, wie Krüge oder Brotlaibe, zu den Dingen, an denen sich nichts mehr verbessern läßt.

Eines der Textkonvolute auf dem Visor, in eine Software namens MobiBook gebunden, bestand aus Auszügen aus dem Kamasutra, was ich als Beleg dafür ansehe, daß sich vorerst besonders technische Dokumente und Handbücher für die Umsetzung auf e-Books eignen. Daneben war eine Arbeit von Noam Chomski über den Golfkrieg, Martin Luther Kings »I Have A Dream«, und, in den Peanut Reader gefaßt, Stephen Kings »Riding The Bullet« zu lesen. Diesen ausschließlich im Netz veröffentlichten Roman haben im März innerhalb von 48 Stunden etwa eine halbe Million Leser downgeloadet. Der Visor hat sich in den letzten Tagen bei mir leider angewöhnt, Versuche, die kleine Büchersammlung aufzurufen, mit einem »schwerwiegenden Fehler« zu quittieren. Aber sogar das hat mir gefallen. Es ist eine sozusagen technologische Bestärkung von Literatur. Der machtvolle Mythos des Computers strahlt ab auf die uralte Schrift, eingeschlossen die ganze Abenteuerlichkeit dieser modernen Art der kulturellen Bewaffnung.

Vor einiger Zeit war ich als Juror zu einem Wettbewerb eingeladen, in dem Netzliteratur zu beurteilen war. In dem Raum, in dem die Juroren vor ihren Bildschirmen saßen, herrschte die Ruhe konzentrierter Leser, nur ab und zu war das Geräusch eines abgestürzten und wieder neu startenden Rechners zu vernehmen. Das hat mich sehr beeindruckt, denn was alle Schriftsteller zutiefst wünschen, ist Wirkung. Nun ist durch den Computer eine neue Art der Literatur im Entstehen, die in der Lage ist, sogar Maschinen zum Verlöschen zu bringen. Auf dem Palm gabs neben der Novelle »Viola Tricolor« von Theodor Storm etwas von Goethe, »Der neue Paris«. Die Geschichte beginnt mit den Worten »Mir träumte neulich in der Nacht vor Pfingstsonntag, als stünde ich vor einem Spiegel...«. Genauso habe ich mich vor den beiden kleinen Geräten gefühlt. Ab und zu mein ernstes, eingespiegeltes Gesicht, das wie ein hospitalistisches Tier voprbeiwandert, und vor allem die Fingerabdrücke auf dem Display vermitteln den etwas bizarren Eindruck von Fluchtversuchen aus einem kleinen, gläsernen Behältnis.

Die Softwareprodukte, von denen die Texte eingefaßt sind, kennen das Springen und Blättern, wie wir es von den ausgewachsenen Computern kennen Das heißt, auch hier: die Wiederkunft der Papyrusrolle. Der Text fährt aufwärts oder abwärts an dem kleinen Displayfenster vorbei. Eins der Buchprogramme verfügt über ein Feature, das dem Begriff Treiber eine neue, vielmehr eine ganz alte Bedeutung verleiht. Man kann die Maschine veranlassen, den Text automatisch Zeile für Zeile weiterzuschieben, wobei sich augenblicklich, egal, welche Geschwindigkeit man einstellt, ein Gefühl des Getriebenseins einstellt. Natürlich lassen sich Anmerkungen zum Text machen, die netzgerecht Bookmarks heißen. Was den Geräten sehr fehlt, ist ein umstandsloser Zugang ins Netz. Die Welttextmasse im Web als potentieller Hintergrund, in den jedes Buch seine Hyperlink-Myzelien hineinwachsen lassen kann. Immerhin sind die beiden bekanntesten Internet-Unternehmen der Welt, nämlich Yahoo und Amazon, zum einen eine Bibliothek und zum anderen eine Buchhandlung. Das sollte uns Büchermenschen schon mal Freude bereiten.

Im übrigen sind elektronische Bücher noch viel zu teuer. Das Internet gilt als Musterbeispiel für ein System, in dem mögliche Gefahren nicht auf eine Zentrale fokussiert, sondern auf viele Netzknoten verteilt werden. So gesehen, setzen Papierbücher das Internet-Prinzip konsequenter um als ihre digitalen Verwandten. Ein Tisch voll Bücher im Wert von 600 Mark ist wesentlich schwerer kaputtzukriegen als ein genauso teurer PDA, der einem nur mal unglücklich runterzufallen braucht. Die Kinderkrankheiten der E-Books sollten uns aber nicht allzu überheblich machen. Ich erinnere an den Siegeszug des Desktop Publishing. Anfangs war das wirklich ein wenig merkwürdig, etwa wenn ein Aussteller auf einer Computermesse die Frage, was Deskop Publishing eigentlich heißt, so beantwortete: »Das ist ganz einfach. Es heißt Schreibtischoberflächenveröffentlichung«.

Ich kenne einen Autor, der Drucker und Setzer alter Schule ist. Er macht seine Bücher selbst . Eigene Texte, farbige Holzschnitte, japanische Bindung. Alles auf einer soliden Buchdruckpresse im Keller gefertigt, die er zusammen mit einigen gefüllten Setzkästen erworben hat. Damals zu Anfang der achtziger Jahre wurde gerade Bleisatz durch Lichtsatz ersetzt. Ich habe eines seiner großformatigen Bücher, und es ist ein sehr angenehmes Erlebnis, mit den Fingerspitzen übers Papier zu gehen und das Relief des Buchstabendrucks zu fühlen. Er wandte sich mit Grausen, und das zurecht, als ich ihm die ersten Ausdrucke meines Neunnadeldruckers zeigte. Zehn Jahre später gab es den Beruf des Schriftsetzers nicht mehr, nicht einmal mehr in der Schweiz. Dafür wurden nun auf jedem PC die gewöhnlichsten Einkaufszettel in tausendstelmillimetergenau geschnittenen Proportionalschriften verfaßt.

Ich habe einen sehr affirmativen Zugang zur digitalen Technik. Ich freue mich über jede Technik, deren materielle Phänomene möglichst bald wieder verschwinden oder so klein und leicht werden, daß sie gerade noch handzuhaben sind. Beispiel: die Fernbedienungen und Mobiltelefone, deren Tasten nach aberwitziger Miniaturisierung, der nur noch durch gentechnisch verkleinerte Finger beizukommen gewesen wäre, in einem Akt des Rightsizing wieder zu fingerbeerenfreundlichem Format gefunden haben. Mein einziger Wunsch an die Technik von morgen ist: die Hardware soll verschwinden, die Funktionen bleiben. Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Leichtigkeit der Sprache und der Wuchtigkeit des Computerequipments. Wie spaltbares Material hinter einer Sicherheitsscheibe liegt der elektronische Text im Kathodenvakuum der Bildröhre, auf dem gläsernen Blatt. Der Autor, seit jeher hart am Rand des Stofflichen tätig, rückt mit dem Schreiben am Computer seiner Bestimmung näher. Meine Tinte ist das Licht.

Ich habe auch einen tragbaren Rechner, aber ich verwende ihn nur, wenn ich nicht in meinem Arbeitszimmer schreiben möchte, sondern am Küchentisch. Da ist die Aussicht schöner und möglichst wenig an Apparatur und Lüfterbrandung da. Wenn ich aus dem Haus gehe, habe ich einen Notizblock und einen Stift bei mir. Manchmal vergesse ich den Block, aber in den Cafes, in die ich mich begebe, kann ich mir Zettel und Stift ausleihen. Es ist ein gutes Gefühl, mit so wenig so viel machen zu können. Die blöde Blockschrift der PDAs habe ich nur ungern gelernt. Als etwas, das einem eine anschauliche Vorstellung davon gibt, wie elektronische Bücher in ein paar Jahren sein werden, sind sie aber durchaus in Ordnung. Noch sind sie Gadgets, keine ernsthaften Geräte.

Manchmal belastet mich das insgesamte elektronische Equipment. Es ist mir zu schwer, zu groß, zu massiv. Je kürzer und flüchtiger die Einfälle sind, desto schwerfälliger erscheint mir der Computer. Es gibt Ideen, die sind so kurz wie ein Dateiname. Die Maschinerie erscheint mir manchmal so umständlich als hätte ich mir ein Auto gekauft, nur um mich hineinzusetzen und Musik im Autoradio zu hören. Am meisten dieser Last wird aufgewogen durch das, was Friedrich Kittler die ungemeine Blätterbarkeit der Bildschirmseite genannt hat. Eine ganz kleine kulturpessimistische Ehrenrunde möchte ich doch drehen. Vor einiger Zeit habe ich einen Fernsehbericht über einen Web-Designer im afrikanischen Mali gesehen. Er gestaltet die Seiten mit einheimischen Symbolen - so, daß auch Analphabeten sie zwar nicht lesen, aber verstehen und bedienen können. Erst fand ich das einfach nur fabelhaft, wie jemand zuwege geht, um das Netz bis hinaus in den Busch nutzbar zu machen.

Aber dann habe ich angefangen mich zu fragen, ob das nicht noch etwas ganz anderes und sehr beunruhigendes bedeuten könnte. Daß es nämlich Menschen und vielleicht sogar ganze Völker geben könnte, die den Weg über die Alphabetisierung gar nicht mehr gehen müssen, um gleich an der Spitze der technischen Zivilisation anzukommen. Vielleicht stellt sich heraus, daß die Technologie mit Hilfe von Symbolen so einfach zu verstehen ist wie die Ikonografie auf einem internationalen Flughafen. Und vielleicht stellt sich damit heraus daß die Alphabetisierung und die Entwicklung der Schrift und der Bücher nur eine vorübergehende Phase der Kulturentwicklung war und wir uns auf eine transalphabetische Ära zubewegen. Die neue Technologie scheint es Analphabeten zu ermöglichen, die Alphabetisierung einfach zu überspringen. Statt mit dem Speer gehen sie mit dem Mauspfeil auf die Jagd Geht es vielleicht auch ohne die Schrift, nur mit Icons? Die Amerikaner waren immer schon der Meinung, daß die Europäer zu viel denken. Nun packen diese pragmatischen Menschen auch das Denk-Problem pragmatisch an, nämlich technologisch. Ihre Entwickler arbeiten an immer intelligenteren Maschinen für immer dümmere Anwender.

Die ganze Virtual Reality-Technologie beispielsweise ist High Tech für Hohlköpfe. Man braucht nur noch auf irgend etwas in einem simulierten Raum zu zeigen, schon passiert etwas. Entwickeln die Amerikaner diese Technologie vielleicht deshalb so intensiv, damit auch künftige analphabetische Generationen, die ihr desolates Bildungssystem hervorbringt, mit den Segnungen der Hochtechnologie noch etwas anfangen können? Unsere Kultur ist seit dem Beginn der schriftlichen Geschichte vor etwa 6000 Jahren geprägt von der linearen Festlegung durch die Schrift. Eine Zeile, die in eine einzige Richtung fließt. Ein Gedanke, der in eine einzige Richtung läuft. Mit dem Netz tritt die Zeile jetzt über ihre Ufer. An den blauen Hyperlinks sickert die Schrift wie Feuchtigkeit herein und davon. Wir können komponieren - Partituren verfassen, in denen beschrieben wird, wie hundert Instrumente gleichzeitig klingen. Können wir vielleicht auch lernen, vernetzte Schrift so zu beherrschen wie ein Orchesterkomponist? Sind das Netz und die elektronischen Bücher vielleicht die Schule auf diesem Weg?

Der Mensch sucht offenbar aus einem zutiefsten Bedürfnis Zugang zu immer neuen Graden an Komplexität. Ist es nicht aufregend, sich vorzustellen, wie Menschen vielleicht einmal denken werden? Wie der Geist sich weiter in die Unermeßlichkeit erhebt? Zu sehen, wie das Abenteuer der Schrift und des Lesens weitergeht? Weniger als Alles gibt es für den Menschen nicht, das ist die neue Herausforderung an die Schrift. Im übrigen bin ich der Überzeugung, daß nie die Technik der erste Schritt ist, sondern immer ein geheimnisvolles Ereignis im menschlichen Organismus, im menschlichen Geist den ersten Schritt vollführt. Der Versuch der Schrift, in neue, digitale Dimensionen vorzustoßen, ist äußeres Zeichen für etwas, das in unserem Bewußtsein längst begonnen hat und uns beunruhigt - eben weil wir noch keinen angemessenen Ausdruck dafür finden. Alle Welt sucht danach. So viel Schrift wie heute war nie.

 

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